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EUROPÄISCHES SEGEL-INFORMATIONSSYSTEM

Was passierte auf der "Grand Voyager"?
Voyager-Havarie "eine Ohrfeige" Neptuns?

Von Tim Schwabedissen / Peter O. Walter


(16.02.2005) - Als die "Grand Voyager" am 15. Februar mit Schlepperhilfe in den Hafen von Cagliari bugsiert wurde, zeugten äußerlich nur notdürftig verkleidete Scheiben von dem Kampf, den Schiff und Mannschaft gegen den schwersten Sturm der letzten 10 Jahre im Mittelmeer hatten ausfechten mussten. Bleich standen Passagiere, zum Teil mit deutlich sichtbaren Blessuren, an Deck, während der Kreuzfahrer, beobachtet von Fernsehteams, am Kai vertäut wurde. Dort holten Ärzte und Sanitäter fünf Menschen mit Knochenbrüchen von Bord und brachten sie ins Krankenhaus, darunter eine Frau mit einem doppelten Beinbruch. Weitere 20 Personen erlitten teils schwere Prellungen und Quetschungen.

Sich überlagernde Wellen und sehr hoch gehende See hatten die "Grand Voyager" während ihrer Fahrt von Tunis nach Barcelona in Bedrängnis geriet. Der Kreuzfahrer hatte einen Kurs gegen Wind und Welle und als eine Welle über das Vorschiff brach und gegen die Brücke prallte, hatten die knapp zwei Zentimeter dicken Scheiben, die gemäß weltweiter ISO-Norm 1,3 Tonnen Druck pro Quadratmeter aushalten müssen, der Kraft nichts entgegenzusetzen. Während sich andere Fenster an Bord mit Seeschlagblechen aus Aluminium oder Stahl zusätzlich von innen schützen lassen, ist dies in der Kommandozentrale nicht möglich. Aufprallwinkel, Wellensteilung, Geschwindigkeit und Kurs des Schiffes spielen eine große Rolle bei solchen Situationen. Bei dem im Vergleich zu Riesenkreuzfahrern eher kleinen Schiff brach das Wasser in den 15 Meter über dem Meer liegenden Kommandostand ein, obwohl die 28 Knoten schnelle "Voyager" nur mit langsamer Fahrt gelaufen sein dürfte. Auf der Brücke läuft die gesamte Elektronik zusammen. Es folgte ein Kurzschluss, in dessen Gefolge sich die Maschinen abschalteten und die Stromversorgung ausfiel. In einem solchen Fall lässt sich ein Schiff dann noch vom Maschinenkontrollraum tief im Rumpf steuern. Auch direkt von den Maschinen aus können Antrieb und Ruder bedient werden.




Ohne Maschine liegt die "Grand Voyager" quer zur Welle, eine äußerst gefährlich Situation. "Ich spürte einen schweren Schlag, und das Schiff spielte verrückt, als wäre es von einer Ohrfeige Neptuns getroffen." So blumig schilderte nach der Ankunft in Cagliaro ein spanischer Passagier seine Eindrücke. "Der Seegang war furchtbar. An Bord flogen alle möglichen Dinge umher: Tische, Stühle und Liegen", erzählt eine Passagierin. Andere Reisende berichteten, das Schiff sei mit solcher Wucht auf die Wellen geprallt, dass sogar zahlreiche Gegenstände aus ihren Verankerungen gerissen wurden. "In meiner Kabine flog der Fernseher durch die Luft und zerschellte in 1000 Stücke", sagt ein Passagier. Menschen seien schreiend vor Angst und Schmerzen durch das Schiff geschleudert worden. Pärchen klammerten sich aneinander. Manche Urlauber bluteten, die meisten mußten sich übergeben.

Nach der Havarie gelang es mit dem automatisch anspringenden Notstromaggregat aber offensichtlich, zunächst eine der vier knapp 13.000 PS starken Maschinen in Gang zu setzen. Deren Kraft reichte, um das Schiff wieder auf Kurs zu bringen. Ohne Steuerung legen sich Schiffe quer zur See und beginnen nach beiden Seiten zu schwanken. Dieses Rollen, das auf den Luftfotos der "Voyager" nach der Havarie gut zu erkennen war, ist gefährlich und auch unangenehm für die Passagiere, da auch Stabilisatoren nur bei Fahrt wirken.

Die "Voyager" war seit dem Jahr 2000 ständig zwischen Karibik und Mittelmeer unterwegs und hat dabei mehrfach den Atlantik überquert - bis zum 14. Januar ohne jeden Zwischenfall. Das 24.391 BRZ große Schiff war im Jahr 2000 als "Olympic Voyager" in Hamburg erbaut worden. Noch vor der Indienststellung geriet der Auftraggeber aber in Schwierigkeiten, und erst mit großer Verzögerung ging der Kreuzfahrer in Fahrt. ER ist 180,45 Meter lang, 25,5 Meter breit und hat 7,25 Meter Tiefgang. Einer ist die Hoizon Navigation auf Nassau. Ironie der Geschichte: Erst am 26. Januar war das Schwesterschiff "Explorer", die ehemalige "Olympic Explorer", 1.700 Meilen nordwestlich Hawaiis ebenfalls von einer rund 15 Meter hohen Welle getroffen worden. Auch in diesem Fall fielden Maschinen und Elektronik aus. Am 31. Januar erreichte sie Honolulu.


Cagliari: Eine Verletzte wird von Bord gebracht. Außergewöhnlich hohe Wellen sind mittlerweile Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Bis vor wenigen Jahren glaubte die Wissenschaft, daß Wellen, die Kammhöhen von mehr als 40 Metern erreichen können, höchstens alle 10.000 Jahre vorkommen. Viele Forscher hielten sie gar für Seemannsgarn und für physikalisch völlig unmöglich. Ein folgenschwerer Irrtum - man nimmt mittlerweile an, dass allein in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehr als 200 Tanker, Frachter und Containerriesen diesem tödlichen Naturphänomen zum Opfer fielen. Zum Beispiel die 181 Meter lange "Flare", die Anfang 1998 von einer "Freak Wave" in zwei Teile zerschlagen wurde. 15 Mann starben. Als Opfer einer Riesenwelle galt auch der 261 Meter lange deutsche Frachter "München", der im Dezember 1978 mitsamt seiner 28-köpfigen Crew unterging. Eine mehr als 30 Meter hohe Welle versenkte vor Jahren auch die Bohrinsel "Ocean Ranger". Sie schlug mit der Aufprallwucht tausender Tonnen gegen die Plattform, zerschmetterte ein hochgelegenes Fenster und verursachte einen folgenschweren Wassereinbruch: Es handelte sich um den Kontrollraum für die Pumpen, die die Plattform stabilisierten. Das eingedrungene Wasser löste einen Kurzschluss aus, die Pumpen waren nicht mehr zu kontrollieren. Die riesige Bohrinsel kenterte, und die gesamte 84-köpfige Inselmannschaft kam in der tosenden See um.

Im September 1995 erwischte es den britischen Luxusliner "Queen Elizabeth 2". "Es sah aus, als führen wir direkt in die weißen Klippen von Dover hinein", sagte Kapitän Ronald Warwick hinterher. Im Februar und März 2001 traf es wiederum zwei Kreuzfahrtschiffe - die "Bremen" und die "Caledonian Star". In beiden Fällen wurden, wie jetzt bei "Voyager" und "Explorer", die 30 Meter hoch gelegenen Brückenfenster eingedrückt. Die Probleme ähnelten den jetzt aufgetretenen.

Neuere Forschungen ergaben, dass Riesenwellen fast in jedem größeren Sturm entstehen können. Radardaten aus dem Nordsee-Ölfeld Goma belegten 466 solcher Wellenbildungen innerhalb von zwölf Jahren. Die Europäische Union startete im Dezember 2000 das auf drei Jahre angelegte Forschungsprojekt "Maxwave" unter maßgeblicher Mitwirkung des GKSS-Forschungszentrums in Geesthacht. Zwei Satelliten der europäischen Raumfahrtbehörde ESA, ERS-1 und ERS-2, scannten die Weltmeere mit einem speziellen Radar in Abständen von 200 Kilometern. Innerhalb von nur drei Wochen registrierten zur Überraschung der Wissenschaftler sie zehn Wellen von mehr als 25 Meter Höhe.

Die Forschung unterscheidet dabei drei Haupttypen von Wellen:

den "Kaventsmann", eine Einzelwelle von großer Höhe und unbestimmter Form,
die "Drei Schwestern" - drei kurz nacheinander auftretende Riesenwellen, und
die "Weiße Wand", eine fast senkrechte Einzelwelle von ungeheurer Höhe und bis zehn Kilometer Breite, an deren Vorderflanke weißer Schaum herabläuft.

Auch die Typologie der noch nicht völlig geklärten Entstehung von Riesenwellen zerfällt grob in drei Modelle:
das "Huckepack-Modell", bei dem schnellere Wellen langsamere einholen und sich an ihnen auftürmen,
das "Strömungs-Modell", bei dem starke Meeresströmungen Wellen zu steilen Bergen zusammendrücken, sowie
das "Kreuzsee-Modell", bei dem Strudel, Wasserwirbel und drehende Winde große Wellen selbst bei ruhiger See wie aus dem Nichts entstehen lassen. Es gibt Regionen, in denen solche Wellen besonders häufig auftreten, zum Beispiel vor der Südostküste von Südafrika, wo heftige Winde gegen den warmen Agulhas-Strom drücken. Hier gibt der südafrikanische Wetterdienst sogar schon "Freak Wave Warnings" heraus. Auch die Küstenmeere vor Florida, der Golf von Alaska und das Meer vor Norwegen gelten als Geburtsorte solcher Wellen.
Quelle: Tim Schwabedissen