REINHARD RAFFALT - Sonnenfinsternis - entnommen dem Privatdruck für die Freunde Reinhard Raffalts und des Prestel Verlages Dezember 1961, Auflage 1000 Stück
IM JAHRE 1961, am 15. Februar, um 8 Uhr 33 morgens sah ich aus dem Fenster eines Flugzeuges in 7500 Meter Höhe über der Stadt Ancona uud dem Adriatischen Meer für die Dauer von zwei Minuten die vollständige Verfinsterung der Sonne. Zwei Minuten ohne Zeit - nicht Tag noch Nacht. Die Erde Italiens knochenbleich, das Meer ein böser Sumpf, der Himmel schwarz und voll leuchtender Sterne. In der Mitte das apokalyptische Gestirn. Und ich - ein Mensch ohne Gefühle, meiner Sinne beraubt bis auf das Auge. Wer sagt, dies sei ein Naturereignis von besonderer Schönheit, sonst nichts, dem ist zu gratulieren. Ist es mit der Schönheit schon genug? Was geschieht mit den Menschen, was mit dem Leben auf der Erde, wenn die Sonne sich verfinstert? Auf Golgotha hat sie es auch getan. Damals standen, wie die Heilige Schrift uns berichtet, die Toten aus den Gräbern auf. Ich bin sicher, in jenen zwei Minuten nichts gedacht und nichts empfunden zu haben. Ich beobachtete angestrengt, was am Himmel geschah. Ich sah den Schatten des Mondes in phantastischer Schnelligkeit über das Land wandern. Und ich erinnere mich, daß ich fror. Als der erste Sonnenstrahl wieder erschien, dachte ich an den Tod.
Natura non contristatur, ist ein alter Satz. Die Natur kann sich nicht betrüben. Aber wenn die Sonne schwarz am Himmel steht, gibt die Natur ein furchtbares Geheimnis preis: die Melancholie der Schöpfung. Einen Augenblick schweigen die Sphären. Schaudernd vernimmt es der Mensch, und da alles sich verkehrt, hört er es durch das Auge, nicht durch das Ohr. Unter uns das Land Italien. Erst die Campagna Romana, braunes etruskisches Gräberland, herdenbevölkert, mit verwitterten großen Höfen, schwermütig und stark. Dann das grüne Umbrien, vom heiligen Franziskus besungene Natur, in sanften Wellen der steigenden Sonne entgegenziehend. Schließlich die Toskana mit ihren Köhlerfeuern und Zypressenwegen, Dantes geliebte Landschaft. Wunderbar die noch von der Nacht her erleuchteten Städte, wie fremdartiges Geschmeide hingeworfen auf die Kuppen der Berge. Italien, den Göttern heiliges Land.
Aus dem Lautsprecher des Flugzeuges tönte in Abständen die Stimme des Professors Rinaldo Orengo. Mit dem präzisen Tonfall eines Condottiere sagte er zum Beispiel: »In vierzig Sekunden tritt der Mond in die Sonnenoberfläche ein. Ich zähle: dreißig, zwanzig, zehn, sehen Sie durch Ihre Gläser, fünf; vier, drei, zwei, eins, jetzt. Der Mond ist pünktlich gewesen.« Cäsar hätte es nicht anders gesagt. Hinsichtlich der Pünktlichkeit gelang dem Professor zugleich eine unbewußte Ironie, denn im Italienischen ist der Mond - la luna - weiblichen Geschlechts. Nach weiteren zehn Minuten geschah es. Das Licht wurde mondhaft. Ich sah es an den Tragflächen des Flugzeuges, die plötzlich erbleichten. Man hat sich sehr daran gewöhnt, in emem Flugzeug ein halblebendiges Wesen zu sehen, und so fühlt man sich wie in einem verlöteten Sarg, wenn das Metall seine Kälte zeigt. Gleichzeitig veränderte sich auf der Landseite das Gebirge. Der Apennin nahm die Gestalt eines Riesenfossils an. Ich dachte an echsenhafte Vorzeittiere, ihre unheimliche Dimension und an die schreckensvolle Wirkung, die ihr Gebein auf uns übt, selbst wenn wir wissen, daß sie harmlos waren. Es war kein Zweifel: die Natur begann zu sterben. Wir hatten nicht bemerkt, wie das Leben langsam und stückchenweise aus ihr gewichen war. Plötzlich sah man hinter ihrem Antlitz das Knochengerüst. Dann war es in einem Augenblick dunkle Nacht. Der Mond verdeckte die Sonne, die Corona erschien, die zwei Minuten der totalen Sounenfmsternis hatten begonnen. Und damit trat zwischen Himmel und Erde ein Zustand ein, den niemand erwartet hatte. Daß es finster wurde, nahm man noch hin. Man war darauf vorbereitet worden. Daß es im Norden und Süden Spiele des Lichtes gab, worin sich die Farben des Regenbogens mit dem Glanze reinsten Feuers vereinigten, konnte man sich durch die begrenzte Ausdehnung des Mondschattens erklären. Die Sterne am Himmel waren zwar absurd, dennoch ob ihrer unveränderten Gestalt in Kauf zu nehmen. Gänzlich unfaßbar aber war die Sonne. Astronomisch gesehen war der Mond mit seiner unbeleuchteten Seite in voller Rundung so vor die Sonne getreten, daß er sie völlig verdeckte. Was das Auge wahrnahm, war ein Kreis größter Vollkommenheit und ungewöhnlicher Ausdehnung, in niemals zuvor gesehener Schwärze am Himmel stehend und vom Widerschein des Jüngsten Tages umgeben. Leuchtende Strahlen schossen in gebündelter Kraft von ihm weg in das Firmament. An der Stelle war eine rote Lichtfontäne zu sehen, eine Protuberanz. Das Auge bedurfte keines Hilfsmittels mehr, um den düsteren Glanz der Erscheinung einzufangen. Die Wirklichkeit des Lichtes war aufgehoben, der Schein an die Stelle des Seins gerückt.
Die Glaubwürdigkeit der sinnlichen Wahrnehmung büßte ihre Zuverlässigkeit fortschreitend ein. Die Erde schien erkaltet, das Meer erhitzt, Bäume und Äcker versteint. Hätte man das Schauspiel am Himmel gesehen, ohne seine Dauer zu kennen, man wäre vom Eintritt des Endes der Zeiten überzeugt gewesen. Denn mit dem Licht starb die Zeit dahin, mit ihr das Bewußtsein des Lebens und damit die Festigkeit der Person.
Täuschung? Ja, zugegeben. Somit ging es nicht um die Erklärbarkeit, denn sie war gesichert. Es ging um das Irrationale, das allem Erklärten in der Natur anhaftet, sobald der Mensch seinen Blick darauf richtet. Es wäre falsch, wenn ich von einer Lähmung spräche, die mein Gemüt injenen zwei Minuten befallen hätte. Auch handelte es sich keineswegs um Apathie. Vielmehr geriet ich schon in den ersten Sekunden der totalen Sonnenfinsternis in einen Zustand gesteigerten Schauens, der für mich etwas Visionäres hatte. Das Gegenteil also von einem Traum. Dabei geschah die Konzentration aller meiner Kräfte auf die Wahrnehmung des Ereignisses ohne jede Mühe. Ein Zustand von Über-Wachheit stellte sich ein, dem im Augenblick des Endes der Erscheinung jene seltsame nachträgliche Angst zur Seite trat, wie wir sie bei der Nachricht empfinden, ein geliebter Mensch sei der Todesgefahr glücklich entronnen. Nur bezog sich die Angst nicht auf eine Person, sondern auf die Natur. In einem solchen Augenblick zeigt sich die Beschränkung, die einem arithmetischen Verhälmis zur Natur anhaftet. Es wurde offenbar, daß die tatsächhche Erscheinung der Sonnenfinsternis fast nichts mit unserer Fähigkeit zu tun hat, ihren Verlauf exakt vorherzubestimmen. Hunderte von Wissenschaftlern waren im ganzen Beobachtungsgebiet damit beschäftigt, die Himmelskonstellation bis in die letzte Sekunde für Messungen und Werte auszubeuten. Dennoch: die Wahrheit sprach jener Astronom, der nach einem langen, der Sonnenbeobachtung gewidmeten Gelehrtenleben bekannte: »Ich habe mehrere Sonnenfinsternisse erlebt und immer mit äußerster Spannung gearbeitet. Diesmal überließ ich die Arbeit jüngeren Kollegen. Es war die erste Sonnenfinsternis, die ich gesehen habe.« In der Tat, es kam auf das Sehen an. Ohne Anstrengung und Vorsatz erwachte in jenen zwei Minuten das Auge zu einziger Bedeutung. Mir war, als zöge es wie ein Magnet alle Lebenskräfte an sich. Es war nicht mehr ein funktionierendes Organ für die Weitergabe von Eindrücken, sondern der Sitz der Seele. Die Wahrnehmung des Geschehens war nicht mehr eine Registrierung von Bildern, sondern ein autonomer Zustand der Hingabe. Kein Wissen und keine Erkenntnis verhalfen dem Verstand zu seinem Recht, die Gefühle waren erstorben, das Bewußtsein hatte das Ich-Denken eingetauscht gegen die klare Identität mit dem Vorgang des Sehens. Ein Grund dafür mögen die Farben gewesen sein. Leuchten des Dunkel, so könnte man es nennen, von Feuerbränden gesäumt, ausgehend von einem schwarzen strahlenden Riesenstern, der mitten am Himmel stand. Es vollzog sich im Bereich der Farben eine solche Verkehrung des Gewohnten, daß ich nur einen theoretischen Vergleich habe: im Bereich der Töne würden wir wahrscheinlich ähnlichen Erschütterungen unterworfen, wenn wir plötzlich für zwei Minuten die Musik der Sphären hören könnten. Vielleicht besteht der Zustand des Menschen am Jüngsten Tage darin, daß alle seine Sinne in so schrankenlosem Maße beansprucht werden wie in jenem Augenblick das Auge.
Gleichzeitig verlosch die Zeit. Völliges Vergessen trat ein. Es war unmöglich, zwischen der Natur in der Sonnenfinsternis und dem normalen Bild des Morgens, in dem wir uns befanden, einen Vergleich zu ziehen. Das Strahlengebilde am Himmel hatte nichts mit Sonne und Mond zu tun. Eine Rückkehr zum Tage schien belanglos, obgleich sie sicher war. Der Mensch ist plötzlich allein. Kein Gedanke, einen solchen Augenblick mit anderen, auch nicht mit den liebsten, teilen zu wollen. Nachher, als der Tag seinen Fortgang nahm, habe ich an alle gedacht, die mir nahestehen, und gewünscht, sie hätten sehen können, was ich sah. Aber während des leuchtenden Dunkels war Einsamkeit um mich. Und es war nicht die Einsamkeit der Entfernung.
Ein großer Mann, der den Augenblick seines Todes nahen fühlte, sagte zu jemand, der ins Zimmer trat: »Störe mich nicht, ich sterbe.« Der Weltvorgang selbst war von ungeheurer Trauer. Eine Einleitung zu etwas Größerem, das nicht folgte. Der erste Strahl der Sonne, die hinter dem Monde hervorkam, zerstörte das unfaßbare Licht der Corona, warf seinen bleichen Schein über uns und brachte die Botschaft seufzenden Neubeginns. Ich mußte an die Propheten denken und an ihren schwersten Augenblick: wenn sie innewerden, wie die bannende Kraft ihrer Weissagung wieder erlischt. Ist es reine Phantasie, sich das Weltall als ein unerlöstes Getriebe vorzustellen, das an sich selbst die Vorzeichen seiner endgültigen Gestalt erlebt? Seufzend kehrt es in seine Bahnen zurück, wenn sich zeigt, daß der Augenblick noch nicht gekommen ist.
Doch ist er jedesmal nahe. War es denn ein Zufall, der die Stunde des Kreuzestodes mit einer Sonnenfinsternis zusammenband? Hat der heilige Johannes, der damals unter dem Kreuze stand und uns als Greis in der Geheimen Offenbarung die letzten Dinge beschrieb, die unbegreifliche Kraft seiner Bilder nur dem Umstand zu verdanken, daß er nicht wußte, was eine Sonnenfinsternis wirklich ist?
Auf dem Boden Italiens, innerhalb der Zone, worin die Sonnenfinsternis vollständig zu sehen war, gibt es einen Ort, an dem man drei Kreuze aufgerichtet hatte. Kurz bevor die Verfinsterung eintrat, wurden drei Menschen, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, an diese Kreuze geheftet. Statisten im Panzer römischer Legionäre und Bauern im antiken Kostüm waren in großer Zahl versammelt. Dazu Neugierige in Scharen, darunter eine bekannte italienische Filmschauspielerin. Eine Filmgesellschaft hatte alles arrangiert, um das Geschehen von Golgotha in nie gesehener Glaubwürdigkeit zu rekonstruieren. In tiefer Stille - nur die Kamera surrte - drehte man die Szene. Der Darsteller Christi sprach mitten in die Sonnenfinsternis hinein: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Es ist Zeit, die Sache beim Namen zu nennen: die totale Sonnenfinsternis ist eine Prophetie. Und was sie prophezeit, ist der Jüngste Tag. Weblinks: Reinhard Raffalt in Wikipedia Bücher (auch nicht mehr im Handel erhältliche) bei Amazon
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