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Vendee Globe: Kein Gott und kein Gesetz

Von Kai Müller


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Bei der härtesten Regatta der Welt umrunden 24 Segler den Globus, allein auf ihren Rennyachten. Raphaël Dinelli hat es letztes Mal nicht geschafft. Nach 38 Stunden auf dem sinkenden Boot ist er gerettet worden. Heute startet er noch einmal.
Ein Pfeifen. Ein zartes, wisperndes Heulen. Dann sieht man die Böe über das Hafenbecken fegen - ein panischer Rattenschwarm, der sich durch das Wasser wühlt. Als der Windstoß auf die 24 Yachten niederfährt, die sich auf den Start der Vendée-Globe-Regatta vorbereiten, legen sich die Boote auf die Seite und zerren an ihren Leinen. Das Heulen im Gewirr der Masten klingt wie eine Drohung.

Dicke Regentropfen prasseln auf das Deck der "Sogal Extenso", drinnen klingt das, als rutsche langsam eine Ladung Kies ins Boot. Raphaël Dinelli kümmert das wenig; er schaut angespannt auf einen Computerbildschirm. Eigentlich sollte sich jetzt dort eine Wetterkarte aufbauen, aber nichts geschieht. Sein Techniker zuckt mit den Achseln und empfiehlt, das Programm noch einmal auf einem anderen Computer zu starten. Dinelli nickt und schaut sich um. Unter Deck herrscht Chaos. Pinsel und Farbeimer, Werkzeug, Gummistiefel und Handbücher liegen herum, lose Kabelenden ragen aus schwarzen Löchern, Proviantkartons stapeln sich in den Ecken. "Wir sind fast fertig mit den Vorbereitungen", sagt er, und das klingt, als würde er sich selbst Mut zusprechen"wir arbeiten nur noch etwas an der Elektrik, der Software und, naja, an kleineren Details."

Der 32-jährige Franzose würde einen guten Star für eine Soap Opera abgeben mit seinen großen blauen Augen, den dunklen Haaren, die der Wind in seine sonnengebräunte Stirn weht, mit dem gewinnenden Lächeln. Er wirkt keineswegs wie ein Einzelgänger, wie einer, der sich, allein auf weiter See, dreieinhalb Monate lang der eigenen Angst und der Einsamkeit aussetzt.

Aber genau darum geht es: Alle vier Jahre trifft sich hier im französischen Les Sables d'Olonne die Elite der Einhandsegler, um zu einem Rennen um den Globus zu starten, der härtesten Regatta der Welt. Dinelli ist zum zweiten Mal dabei. Vor vier Jahren hätte er das Rennen beinahe nicht überlebt, nachdem seine Yacht in einem Sturm 1200 Meilen südwestlich von Australien kenterte und sank. Trotzdem macht er sich wieder auf den Weg; zu Hause warten seine Frau und die fünfjährige Tochter. Hat er den Verstand verloren? Soll ihm die Natur noch einmal beweisen, dass sie stärker ist? Müsste ihm die Erfahrung nicht genug sein: noch einmal davongekommen zu sein?

Es ist wie eine Sucht. "Irgendwann will jeder Extremsegler Vendée segeln", sagt der Engländer Pete Goss, der Dinelli damals aus den Fluten fischte. Die beste Therapie dagegen ist wohl, das Rennen zu gewinnen. Die Vendée Globe sei etwas für Leute, sagt der Initiator und Einhand-Veteran Philippe Jeantot"die hinter ihre Grenzen gelangen wollen". Bei den drei Wettfahrten, die seit 1989 ausgetragen wurden, haben schon zwei Segler ihr Verlangen, die eigenen Grenzen zu überwinden, mit dem Leben bezahlt.

Jeantot macht ein betrübtes Gesicht, wenn er aus seinem Wettfahrtbüro am Hafen auf die flachen Renner mit ihren überdimensionierten Abmessungen schaut. Jeden Tag strömen Tausende von Schaulustigen über die Pontons, um diese Wunderwerke der Technik zu bestaunen. Für den Start, der wegen des schlechten Wetters von heute auf Dienstag verschoben wurde, erwartet Jeantot etwa 400 000 Besucher. Allein auf dem Wasser werden sich über 1000 Ausflugsboote tummeln. Seit Austragung der letzten Vendée Globe 1996 / 97 hat sich die Zahl der Teilnehmer nahezu verdoppelt, was die Sache nicht ungefährlicher macht. "Nach den vielen Kenterungen haben wir neue Sicherheitsstandards eingeführt", sagt Jeantot"doch auf See gibt es keine Garantie." Zumal die Route durch eine der unwirtlichsten Erdregionen führt, von den Franzosen "Le Grand Sud" genannt: der große Süden.

Gemeint ist der Südozean, der sich über die südlichen Breiten des Atlantiks, des Indischen und Pazifischen Ozeans erstreckt. Eine Wüste aus Wellen, die sich zu gewaltigen Ungetümen auftürmen können. Stürme, Kälte und Treibeis machen den Südozean zu einem mörderischen Ort. "Unterhalb des 40. Breitengrades gibt es kein Gesetz", besagt eine alte Seemannsweisheit"unterhalb des 50. keinen Gott." Bei den letzten Rennen drangen die Teilnehmer, um den Weg abzukürzen, bis zum 60. Breitengrad vor.

Angesichts der "Open 60"-Yachten, die 60 Fuß lang sind, also etwa 18 Meter, mag die Erinnerung an die düstere Epoche der Rahsegler unangemessen erscheinen, für die der Weg um Kap Horn zur "Totenstraße" wurde. Diese Gefährte haben kaum etwas mit herkömmlichen Booten gemein. Mit einer Masthöhe von über 25 Metern, einem 4 Meter 50 langen, schwenkbaren Kiel, an dem ein Bleigewicht von etwa 3 Tonnen hängt, sind sie für besonders hohe Geschwindigkeiten entwickelt worden. Sie funktionieren wie ein Surfbrett, das auf die eigene Bugwelle aufgleitet und in achterlichem Seegang auf den Wellenkämmen reitet. Dann treibt der Wind sie vor sich her, und sie schießen mit über 30 Knoten durchs Wasser. Die Skipper wissen, dass sie das modernste Gerät haben, das es gibt. Dennoch ist es der Südozean, an den sie denken, wenn sie vor dem Start immer wieder ihre Checklisten durchgehen.

Fehler kann man sich bei dieser Tour nicht leisten, und deshalb organisieren viele der Segler die Fahrt wie einen Feldzug. Der größte Favorit des Rennens, Mike Golding, gehört zu diesen Leuten. Dinelli aber ist schon immer ein Mann der letzten Minute gewesen. Vor vier Jahren musste Dinelli als "freier Teilnehmer" starten, weil er die 2000 Seemeilen nicht zusammenbekam, die man zur Qualifikation braucht. Für ihn galt die seltsame Sonderregel: Sobald er Kap Horn erreichen würde, würde seine Fahrt gewertet werden. Am Weihnachtstag 1996, nachdem er bereits sieben Wochen allein auf See zugebracht und etwa ein Drittel der 27 000 Seemeilen langen Strecke zurückgelegt hatte, geriet er in einen schweren Sturm. Sein Boot, die "Algimouss", begann auf Wellen zu surfen, die bis zu 20 Meter hoch waren. Der Skipper zog sich unter Deck zurück, von wo aus er seine dahinschießende Yacht über einen Autopiloten zu steuern versuchte. Plötzlich schlug die "Algimouss" um und krachte bei voller Fahrt in die See. Der Aufprall war so gewaltig, dass der Mast das Deck durchbohrte und ein Kajütfenster zersplitterte. Das havarierte Gefährt blieb kopfüber liegen.

Dinelli kauerte in einer Ecke seiner Yacht, die wild im Seegang schlingerte und dabei langsam voll Wasser lief. Nach drei Stunden riss der Mast vollends ab, so dass sich das Boot wieder aufrichtete. Jetzt war Dinelli in seinem bei der Kenterung eingerissenen Überlebensanzug, der ihn hätte trocken und warm halten sollen, schutzlos den Brechern ausgesetzt. Er band sich am Maststumpf fest und hoffte, dass jemand sein Seenotsignal auffangen und ihn erreichen würde, bevor sein Schiff unter ihm wegsackte.

"Ich habe den Schrecken vergessen", sagt Dinelli heute. "Das Bewusstsein verdrängt solche einschneidenden Erfahrungen. Wer 38 Stunden aufrecht in fürchterlicher Kälte auf einem Boot gestanden hat, das im Begriff ist zu sinken, der weiß, dass er ein zweites Leben geschenkt bekommen hat."

Bedenken, dass wieder ein Unglück geschehen könnte, wischt Dinelli beiseite. "Die Schiffe sind viel sicherer geworden", sagt er und zerrt die Rettungsinsel zur Demonstration durch einen schmalen Gang zum Heck des Schiffes, um sie dort durch eine Fluchtluke zu schieben. Läge das Boot jetzt auf dem Kopf oder liefe voll Wasser, könnte das nur ein Mensch in Todesangst bewältigen.

Dinelli weiß: So viel Glück wie damals wird er nicht noch einmal haben. Nur Minuten, bevor das Wrack der "Algimouss" unter der Wasseroberfläche verschwand, warf ein australisches Marineflugzeug eine Seenotinsel ab. Eine Ewigkeit später tauchte Dinellis Konkurrent Pete Goss auf. Er hatte es fertig gebracht, 160 Meilen gegen den Orkan aufzukreuzen und das rote Dach der Insel zwischen den schäumenden Wellenbergen ausfindig zu machen. Als er den erschöpften und unterkühlten Franzosen zu sich an Bord zog, streckte ihm dieser zu seiner Verblüffung eine Champagnerflasche entgegen. Seitdem spricht man im Zusammenhang mit Dinelli nur noch von dem "Wunder am 40. Breitengrad".

"Von einem solchen Rennen kommen wir alle nicht unversehrt zurück", gab der damalige Sieger Christophe Auguin zu Protokoll. Aber Dinelli wollte nichts wissen von den seelischen Narben, die er von dieser Regatta davongetragen hatte. Segeln war sein Leben, seit seiner Kindheit, die er in Arcachon bei Bordeaux verbracht hat. Mit zehn Jahren verfolgte er am Fernsehen den Zieleinlauf der ersten von Frankreich aus gestarteten Transatlantik-Regatta, und seit diesem Tag träumte er davon, Einhandsegler zu werden. Der Betriebswirtschaftler ist vernarrt in die Epoxidharz-Carbon-Geschosse, deren Innenleben keinerlei Komfort bieten. Er liebt es, auf sich allein gestellt zu sein und das technisch Mögliche aus seinem Boot herauszuholen. Auch wenn das bedeutet, dass er sich von getrockneter Astronautenkost ernähren muss und nicht länger schlafen kann als vier bis fünf Stunden pro Tag.

Ohne großes Nachdenken suchte er schon 1997 einen Sponsor für ein neues Boot. Er schloss einen Vertrag ab mit Sodebo, einem Hersteller von Tiefkühlpizzen. Doch nach einem dritten Platz bei der "Route du Rhum" 1998 überwarfen sich Skipper und Sponsor. Da Sodebo die Baukosten von umgerechnet zwei Millionen Mark übernommen hatte, gehörte dem Unternehmen auch das Boot. Dinelli musste ganz von vorne anfangen. Mit einem Gesamtbudget von etwas über einer Million Mark kaufte er eine alte Yacht, rüstete sie um und absolvierte erste Testfahrten, um Qualifikationsmeilen zu sammeln.

Chancen auf einen Sieg bei dieser Vendée hat Dinelli nicht. Er will ankommen, sagt er. Je besser er abschneide, desto größer seien seine Aussichten, glaubt er, danach einen Geldgeber für ein Boot zu finden, mit dem er gewinnen kann.

Die erste Prüfung, bei der kleinste Nachlässigkeiten und Materialschwächen zutage treten, wartet auf Dinelli in der Biskaya. Ihre tückischen Herbststürme dezimieren das Teilnehmerfeld jedesmal. Vor vier Jahren musste der vormalige Besitzer der "Sogal Extenso", der ungarische Vendée-Veteran Nandor Fa, wegen technischer Defekte drei Mal nach Les Sables d'Olonne zurückkehren. Mit jedem Mal fiel es ihm schwerer, sich wieder aufzuraffen. Als er schließlich mit einem Frachter kollidierte, gab Fa entnervt auf. Wenn man aber die Biskaya einmal durchquert hat, weiß Dinelli"ist es zu spät, um zurückzukehren".


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