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EUROPÄISCHES SEGEL-INFORMATIONSSYSTEM

20 Stunden allein im Ozean
Rettungsdrama 300 Meilen vor Mauritius

Von Uli Hauser
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Hamburg - Ans Aufgeben denkt sie nicht. Nicht, als das Meer sie über Bord spült. Nicht, als die Nacht hereinbricht. Nicht, als der Morgen kommt. 20 Stunden ist sie ein Spielball der Wellen, allein mit dem Wind und dem Regen, der Gischt im Gesicht, dem rollenden Donnern des Ozeans. Da ist nichts, an das sie sich klammern könnte. Der Sturm wötet mit Windstärken bis zu elf, die Wellen türmen sich auf. Sie verdecken den Horizont, nach vorn und nach hinten.

Der Kampf der Kerstin Bruns beginnt um 15.10 Uhr am Nachmittag des 25. Juni. Die "Hansa Bergen", ein Containerschiff der Hamburger Reederei Leonhardt & Blumberg, ist unterwegs von Singapur nach Südafrika. 300 Seemeilen sind es bis zum nächsten Hafen, Port Louis auf Mauritius. Kerstin Bruns aus Bremen ist 2. Offizier. Als einzige Frau an Bord kommt sie gut aus mit ihren Kameraden, den 20 Männern von den Philippinen, aus Litauen und der Inselrepublik Kiribati in der Südsee. Der Kapitän und der 3. Offizier sind Deutsche.

Kerstin Bruns (25) fährt seit drei Jahren zur See. Sie will Kapitän werden. Zu ihren Aufgaben an Bord zählt auch die Wache auf der Brücke. Ihr Dienst auf der "Hansa Bergen" geht von Mitternacht bis vier Uhr früh und mittags von 12 bis 16 Uhr. Kerstin Bruns hält Ausschau - jede Stunde muss sie ihre Wetterbeobachtungen ins Logbuch eintragen. Bei Außentemperaturen von 27 Grad wechseln sich Sonne und Wolken ab. Der Wind kommt von Ostsödost, mit einer Stärke von neun Beaufort. Das Schiff schlingert 15 Grad in jede Richtung, Seeleute nennen das "rollen".

Kurz vor 3 Uhr ruft Kapitän Helmut Wende (57) Kerstin Bruns in seine Kammer. Er hat mal wieder Ärger mit seinem Computer. Kerstin Bruns wird auf der Brücke vom 3. Offizier abgelöst.

über Walkie-Talkie meldet der 1. Offizier, auf dem Hauptdeck habe sich die Gangway gelockert. Der Kapitän bittet Kerstin Bruns, zusammen mit einigen Kollegen nach dem Rechten zu sehen. Vielleicht sind ein paar Schrauben festzuziehen. Es ist 3 Uhr. Wende wird das Schiff so in den Wind drehen, dass keine Wellen an Bord schwappen.

Kerstin Bruns trifft ihre Kollegen auf dem Poop-Deck, am Heck, dort, wo das Bereitschaftsboot lagert: drei Matrosen und den 1. Offizier. Der Weg zur Gangway fährt durch einen schmalen Korridor unter den Containern. Kerstin Bruns hat vorher ihren Schmuck auf der Kammer abgelegt: Fingerringe und ein Amulett mit dem Bild ihres Freundes; es soll kein Spritzwasser abbekommen. Der Auftrag ist übersichtlich. Eine Rettungsweste zieht sie nicht an.

Der 1. Offizier Lorie Bernaldez sieht die Welle als erster. "Watch out", schreit er. Niemand hat damit gerechnet: Der Wind kommt von Ostsödost, diese Welle offensichtlich aus nordwestlicher Richtung. Sie setzt alle unter Wasser, drückt sie gegen Stahlkanten und Streben. Jeder versucht, sich festzukrallen. Bootsmann Uribano Kabumarou packt von hinten den 1. Offizier, der fast von Bord gespült wird. Als zwei, drei Sekunden später der Spuk vorbei ist, fehlt Kerstin Bruns.

Ich bin unter Wasser, mir geht die Luft aus. Ich muss hoch, hoch an die Oberfläche. Es geht, ich bin oben, da ist das Heck. Nur noch das Heck. Das ist es wohl jetzt.

Die "Hansa Bergen" läuft mit knapp 18 Knoten, 540 Meter in der Minute. Selbst wenn der Kapitän die Maschinen sofort stoppt, hat das 20 000-Tonnen-Schiff einen Bremsweg von 3,5 Seemeilen - ungefähr sieben Kilometern.

Welche Chance habe ich? Eigentlich keine. Bei diesem Wetter kannst du kein Boot rauslassen. Das ist lebensgefährlich.

Kapitän Helmut Wende erfährt eine halbe Minute später, dass seine 2. Offizierin über Bord gespült worden ist. Sofort läßt er Rettungsringe ins Wasser werfen, auch Rauchbojen und zwei 4,5 Kilo schwere "Mann über Bord"-Bojen. Die Bojen markieren den ungefähren Unfallort:

17 ° 50,9' Süd, 060 ° 15,8' Ost.

Wende leitet den sogenannten Williamson-Turn ein. Ein internationales Verfahren, ein Schiff so schnell wie möglich zur Unfallstelle Zurückzubringen. Das Ruder bleibt liegen, bis die Kursänderung 60 Grad betrögt, dann wird hart Gegenruder gelegt und das Schiff ins Kielwasser Zurückgebracht. Wende ist zuversichtlich, Kerstin Bruns zu finden. Er traut ihr zu, das Drama gelassen zu überstehen. Er macht sich nur Sorgen, wie er sie bei den Wellen an Bord bekommt.

Der Kapitän teilt seine Mannschaft ein. Ein Ingenieur bleibt bei der Maschine. Acht Mann halten Ausschau auf der Brücke, vier an Steuerbord, vier an Backbord. Die anderen sind an Deck. Die Männer kennen die Stürme am Kap Hoorn und die Hurrikans in der Karibik. So etwas aber hat keiner von ihnen je erlebt.

Ich bin fit. Mein Bein tut ein bißchen weh, mehr nicht. Das habe ich erst mal gepackt. Ich gehe so schnell nicht unter, ich kann schwimmen. Hoffentlich haben die bemerkt, dass ich weg bin. Können mich die schweren Schuhe nach unten ziehen? Soll ich versuchen, den Blaumann auszuziehen? Lieber nicht. Jedes Kleidungsstück schützt mich vor Unterkühlung, die Füße dürfen nicht kalt werden. Ich muss mich so drehen, dass die Wellen von hinten kommen.

Wende informiert kurz vor vier Uhr die Seenotleitung der "Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbröchiger" in Bremen. Hier hält Wilfried Cubasch (50) Wache. Die "Hansa Bergen" ist 300 Seemeilen von Mauritius entfernt. Cubasch versucht über Satellitenfunk einen Kontakt dorthin. Ein Suchflugzeug soll sich in Bewegung setzen. Er mahnt Kapitän Wende, die Rettungsringe bloß nicht aus den Augen zu lassen. Sie zeigen die Richtung an, in die eine Person treiben kann. Eine Stunde ist vergangen.

Sie machen den Williamson-Turn. Sie haben es also schnell gemerkt. Bald sind sie bei mir. In zwei, drei Stunden werde ich wieder an Bord sein.

Zwei Minuten vor 4 Uhr passiert die "Hansa Bergen" beide "Mann über Bord"-Bojen. Kerstin Bruns muss irgendwo hier sein. 50, vielleicht auch 100 Meter entfernt. Maximal 500.

Ich muss versuchen, meine Kräfte einzuteilen, einatmen, bevor die Welle kommt. Das klappt ganz gut. Das kann ich so lange aushalten, bis das Schiff kommt. Ich gehe ja nicht unter, das Salzwasser trägt mich. Ich muss den Blaumann aufmachen. Das gelbe T-Shirt muss man doch sehen können.

Kapitän Wende nimmt einen zweiten, einen dritten Anlauf. 20, vielleicht 30 Minuten vergehen, bis das Schiff gedreht ist. Das Gebiet, in dem er suchen muss, wird mit jeder Minute größer. Bald wird es dunkel sein.

Da sind die Aufbauten, ich sehe sie doch. Soll ich jetzt dahin schwimmen? Die kommen doch nie zu dem Punkt, wo ich bin. Die suchen immer zu weit links oder rechts. Mensch, wäre ich doch nur ohnmächtig und müßte das alles hier nicht miterleben.

Sie treibt fast drei Stunden. Der Himmel fürbt sich orange. Dann stürzt die Nacht aufs Meer.

Ich muss mich darauf einstellen, dass sie mich in der Nacht nicht finden. Jetzt keine Panik. Ruhig bleiben. Und noch sparsamer mit den Kräften haushalten.

Die Notrufe sind raus, Wende hat Kontakt mit Bremen, Kontakt mit Hamburg, seiner Reederei. Schiffe haben sich bisher nicht gemeldet. Der Kapitän denkt an seine Kinder, an die Eltern von Kerstin Bruns. Er denkt an das Goethe-Gedicht vom Erlkönig: " . . . in seinen Armen, das Kind war tot." Er hat Angst, einen solchen Moment erleben zu müssen.

Wie wäre es, hier zu sterben? Ich könnte Wasser schlucken. Aber ich kann mich doch nicht bewußt umbringen. Das geht nicht, ich habe noch soviel vor. Hoffentlich ist bald alles vorüber. Die suchen an der falschen Stelle. Ich will endlich in mein Bett.

Kapitän Helmut Wende hat die komplette Deckbeleuchtung eingeschaltet. Kerstin soll nicht den Mut verlieren. Er ist bei ihr. Alle an Bord sind bei ihr. Fast drei Stunden fahren sie nun schon durch die Nacht; um Viertel vor 9 bietet sich eine Großartige Chance. Die "MV Rigena", ein Containerschiff unter zypriotischer Flagge, ist nur 21 Seemeilen entfernt. Die "Rigena" könnte in 40 Minuten da sein. Kapitän Wende bittet über Funk um Hilfe. Der griechische Kapitän besteht auf einer schriftlichen Anforderung. Wende ist schockiert. Der Versuch, ein Fax zu senden, schlögt fehl. Zweiter Versuch über E-Mail. Wenig später passiert die "Hansa Bergen" erneut die ausgeworfenen Rettungsringe und das Rettungsboot. Zwei Stunden nach der ersten Kontaktaufnahme mit der "MV Rigena" sendet er eine zweite E-Mail. Keine Antwort. Wende kann es nicht fassen. Der Kapitän der "MV Rigena", so hat es den Anschein, hält seine Aktion für sinnlos. Der Wind hat mittlerweile Stärke zehn erreicht.

Ob zu Hause jetzt alle wissen, was passiert ist? Sehe ich Oma im Himmel wieder, wenn ich sterbe? Ich werde es schaffen. Ich weiß es. Ich kann immer noch schwimmen, ich habe immer noch Kraft. Aber ich muss mich jetzt mal ausruhen, auf den Rücken legen. Ich will heiraten. Kinder haben. Ich bin möde, mir tut alles weh. Aber ich darf nicht schlafen.

Die "Hansa Bergen" rollt wie Teufel. An Bord setzt sich alles in Bewegung. Tassen, Bücher, Karten. Das Schiff schaukelt, legt sich 35 Grad auf jede Seite, die Gischt schlögt über die Bordwand. Wende stellt sich vor, wie er den Eltern von Kerstin beibringen muss, dass ihre Tochter von der See verschluckt worden ist. Er raucht Kette, er trinkt Kaffee. Kurz vor 1 Uhr entdeckt er, dass seine "Mann über Bord"-Bojen kein Licht mehr von sich geben. Sie haben gerade mal neun Stunden gehalten. Wende ändert den Kurs, das Schiff schlingert zu sehr. Der Regen wird stärker, weiter als 100 Meter kann man trotz Suchscheinwerfer nicht sehen.

Hier könnten Haie sein. Habe ich eine offene Wunde? Das Bein schmerzt. Ach nee, wenn bis jetzt keine Haie gekommen sind, dann kommen auch keine mehr. Ich habe Durst, ich muss Regenwasser in meinen Mund kriegen. Es geht nicht, ich schlucke Salzwasser. Ich darf kein Salz schlucken. Was ist das? Lichter, da sind Lichter. Da kommt ja noch ein Schiff. Das ist ja super.

Der dänische Autotransporter "Maersk Sun" hat sich aus sieben Stunden Entfernung auf den Weg zur Unglücksstelle gemacht. Wenig später bietet auch das deutsche Containerschiff "San Lorenzo" Hilfe an. Gegen 6.30 Uhr erreichen beide Schiffe die Position. Helmut Wende bittet seine Kollegen, einen eng abgesteckten Suchkurs zu fahren. Jetzt, mit Anbruch des Tages, schöpft er neue Hoffnung.

Ich werde es schaffen. Vielleicht sind Fischer in der Nähe. Ich, das Schokomonster. Ich bin froh über jedes Gramm übergewicht. Hat sich doch gelohnt mit meinem eingebauten Rettungsring.

In Hamburg bereitet sich Stefan Bölow, technischer Direktor der Reederei Leonhardt Blumberg, darauf vor, die Eltern von Kerstin Bruns anzurufen. Auch er hat in der Nacht nicht geschlafen. Bölow ist Vater von drei Kindern und ein erfahrener Kapitän. Er kennt die See.

Kapitän Helmut Wende und die Reederei beschließen, bis zum Abend weiterzusuchen. Zwei Worte haben sich eingenistet: Leben oder Tod. Der Wind erreicht Stärke elf, die Wellen werden höher und härter.

Die Augen brennen so, alles tut so weh. Ich bin so allein. Hoffentlich stoß' ich mich nicht irgendwo. Quatsch, ich bin doch auf dem Meer. Ich darf nicht die Kontrolle über meine Gedanken verlieren.

Es ist 16 Minuten nach 10 Uhr am Morgen, als die Männer der "Maersk Sun" 60 Meter steuerbords einen Kopf sehen. Ungläubig starren sie aufs Meer.

Ich wink' schon die ganze Zeit. Ich kann nicht noch lauter schreien. Laßt ein Boot ins Wasser.

Die Männer werfen eine Rauchboje, sie werfen einen Rettungsring. Der Ring driftet von Kerstin Bruns weg, sie kann ihn nicht erreichen.

Das gibt's doch nicht. Ich will hier raus. Holt mich endlich hier raus.

Die Männer der "Maersk Sun" halten Kerstin Bruns im Blick. Der Kapitän entscheidet, die Rettungsaktion der "Hansa Bergen" zu überlassen. Außer Atem ruft er Kapitän Wende an: "We've got her."

Warum machen die nichts? Die sehen mich doch. Warum holen die mich nicht hoch?

Helmut Wende manövriert in Richtung Kerstin Bruns. Die Männer der "Hansa Bergen" stehen an der Reling und winken ihr zu. Sie jubeln. Sie werfen Schwimmwesten ins Wasser, Rettungsinseln, Rettungsringe.

Der Ring, die Leine, ich muss die Leine packen. Ich hab' sie, endlich, ich hab' Verbindung zum Schiff.

Kapitän Wende ist zu erschöpft, um zu jubeln. Er muss sein Schiff in eine Position bringen, die eine Rettung möglich macht. Er braucht mehrere Anläufe. Das Bugstrahlruder, welches Manövrieren einfacher macht, fällt aus. Das Schiff dreht sich nur langsam.

Das packe ich jetzt auch noch. Die haben mich ja im Blick.

Die Männer versuchen hektisch, Kerstin Bruns zum Schiff zu ziehen.

Bitte nicht, nein. Paßt doch auf. Ihr zieht mich unter Wasser, so geht das nicht. Ich brauche Luft, ich muss den Ring loslassen. Da schwimm' ich lieber allein weiter.

Beim zweiten Versuch sind die Männer umsichtiger. Mal treibt Kerstin Bruns steuerbords, mal backbords. Jetzt erst gelingt es, sie um den Bug herum in Richtung der rettenden Leiter zu ziehen.

Die Männer der "Hansa Bergen" erleben, wie Kerstin Bruns sich mit eigener Kraft auf die Sprossenleiter hievt. Wie sie mehrfach gegen die hohe Bordwand geschleudert wird. Und wie sie wieder von der Leiter gespült wird.

Hoffentlich gerate ich nicht unters Schiff. Ich muss mich festhalten, um jeden Preis.

Um 10 Minuten nach 11 Uhr, 20 Stunden nach dem Unglück, hat Kerstin Bruns es geschafft. Sie ist wieder an Bord ihres Schiffes.

Mir ist schwindlig, ganz schlimm. Ich kann nicht mehr.

Kerstin Bruns wird in die Eignerkabine gebracht.

Nur noch liegen und nicht mehr frieren.

Wenig später meldet die Küstenwache Mauritius an alle Schiffe in der Umgebung: "Lady is alive, please cancel searching."

Zwölf Stunden später wird Kerstin Bruns in einem Krankenhaus auf Mauritius untersucht. Kapitän Helmut Wende schickt ihr eine Große Fischplatte aufs Zimmer. Als er endlich allein ist in seiner Kammer, nach 51 Stunden ohne Schlaf, hört er das "Halleluja" aus Händels "Messias".

Kerstin Bruns ruft ihren Freund an und sagt, was passiert ist.

Ich wollte nicht sterben. Ich will zurück zu dir.


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